Zur Schönen Freiheit

Bericht

Lesung #1

Es ist ja alles da: Eine szenische Lesung

Es ist ja alles da: Eine szenische Lesung

Am Montag, den 28.06., konnten Vorbeiziehende, Innehaltende, Neugierige, Interessierte und schon Verweilende dem Text Es ist ja alles da von Alexander Weinstock, vorgetragen von Meriel Brütting und Ivo Schneider, sitzend auf einer Bank neben der steilen Lagerung in der tiefstehenden Abendsonne lauschen.

Für eine nachhaltige Wirkung der Worte gibt es den Text jetzt auch zum Nachlesen hier:

Sie! He, Sie! Ja, Sie! Oder Sie! Oder Sie! Es geht endlich los. Jaja, Sie haben richtig verstanden: Es geht, wenn es nicht längst schon los gegangen ist, jetzt wie von alleine los.

Und, merken Sie bereits was? Nein? Sicher nicht? Na, dann schauen Sie mal! Nur zu, schauen Sie! Schauen Sie sich um. Ja! Machen Sie mal! Oder schauen Sie an – irgendwen. Warum denn nicht? Ihn, oder sie, oder sich, oder mich. Schauen Sie einfach mal jemanden an. Trauen Sie sich ruhig. Ganz direkt. Schauen Sie ohne Grund, schauen Sie ohne Hintergedanken, ohne Wertungen und Erwartungen, schauen Sie ohne Verweigerung, Verzweiflung, Verwünschungen jemanden an mit reinem Wohlgefallen. Na? Wie gefällt Ihnen das? Nicht schlecht, oder? So zu schauen. So angeschaut zu werden. Also schauen Sie hin. Oder schauen Sie her. Oder schauen Sie nach. Ganz egal. Es ist ja alles da. Es ist ja, wenn Sie sich um- und an-, wenn Sie jetzt hin- und her-, auch wenn Sie nachschauen, alles da.

Was sehen Sie?

Sie sehen, das kann man wahrscheinlich so sagen, von Ihrem Logen-, Ihrem Liege-, von Ihrem Park- und ihrem Platz im Leben aus die allgemeine Lage. Sie sehen die Lagerung, Neigungen kommen in Ihren Sinn und steil sind die Schächte in Ihre Gedanken, nicht wahr, das kann man in etwa so sagen, oder? Und etwas steigt daraus auf, das merken Sie wahrscheinlich schon, das merken Sie, während ich hier mit ihnen rede – aber keine Sorge: Sie befinden sich an einem erholsamen Ort. Sie befinden sich mitten in einem Heilverfahren.

Sie sehen die Freiheit. Sie sehen die selbst verschuldete Unmündigkeit, Sie sehen den Ausgang, dort vorne endet die Unterführung. Sie sehen Verkehr sich vollziehen, Entfernungen, Sie sehen die Straßenverläufe, Sie sehen, da täuschen Sie sich mit Sicherheit nicht, auch Lebensverläufe.

Sie sehen den Untertagebau der Seele; Passanten; Plastikflaschen; furchteinflößende Erinnerungen. Sie sehen einen jungen, noch auf Jahre hin nicht mit sich in Einklang stehenden Menschen tölpelhaft Shoppen. Sie sehen die Gruben; Leute vom Stadtrand; Paare; Peinlichkeiten.

Sie sehen die unentwegt von den Besitzverhältnissen und einer grotesken, kümmerlich Stärke und Überlegenheit behauptenden Körpersprache unter entsetzlichen Anstrengungen notdürftig verborgene Furcht, sich nicht nur an einem Ort wie diesem, sondern an jedem anderen Ort auch in der Verletzlichkeit zu zeigen, die vorbehaltlos anzuerkennen die wahrscheinlich größte zu erbringende Leistung eines Menschen ist – die aber niemals zuzulassen uns panisch beigebracht wird.

Sie sehen Kinderwagen; Berufsbekleidung; Hoffnung und Abfall; Eilende; Alternde; Eingeweihte; auch Weitgereiste. Sie sehen die Freiheit. Ja, Sie sehen die Freiheit.

Sie wissen: Jemand könnte Ihnen hier zu nahe treten. Jemand könnte Ihren Wunsch nach Berührung erahnen; nach Händen, die durch ein herzzerreißend leichtes Auflegen die Sorge von Ihnen nehmen und die Traurigkeit.

Jemand könnte in Kontakt mit Ihnen geraten, in ein Gespräch, dort vorne am Tisch zum Beispiel und Sie kämen, gleichwohl Sie sich zwar kennen könnten aber noch nie begegnet sind und nun zusammensitzen, überein, dass der Verewigung der Ungereimtheiten, die eine sich in vergifteten Strukturen reproduzierende Unmündigkeit flächendeckend beförderte, entschieden entgegengewirkt werden müsse; und dass dazu nur oder doch zuvorderst ein Publikum in der Lage wäre, das heißt, eine egal wie geartete, wo und unter welchen Umständen auch immer – zum Beispiel diesen hier – sich konstituierende Öffentlichkeit, der lediglich ihre Freiheit gelassen werden müsse und der Rest ergäbe sich dann schon von allein oder so ähnlich oder irgendsowas.

Jemand könnte aber auch mit Ihnen an einem Grünstreifen entlang spazieren. Lustwandeln, wie man so schön sagt. Und der Vertreibung aus dem Paradies gedenken; oder der Zirkulation ihrer Wünsche; verschweißter Waren; praller, vor Fett triefender Würste; und der zunehmend erschwerten Produktion von als Sinn erfahrbaren Zusammenhängen.

Jemand könnte sich neben Sie setzen, wenn Sie auf die A40 schauen; wenn Sie in allen Dingen eine Friedlichkeit zu spüren sich im Stande fühlen; wenn Sie paar Bierchen zischen wollen, paar Betriebsgeheimnisse ausplaudern, Behördengänge vorbereiten;

wenn Sie den Horizont, wie er sich jetzt so vor Ihnen erstreckt, mit dem Horizont, wie er sich jetzt so in Ihnen erstreckt, abgleichen, das zwar hochrechnen können auf die Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach verbleibende Lebenszeit, aber noch keine Expertise für das Ausdeuten der Ergebnisse aufgebaut haben;

wenn Sie zum ersten Mal seit Tagen alleine sind;

wenn Sie alleine sind;

wenn Sie sich die richtigen Fragen zu stellen vorgenommen haben – na, Sie wissen schon:

Was passiert, wenn wir ans Geländer treten? Wenn die ganze Welt schläft? Wenn es möglich ist, dass wir der Umgebung stets eine unseren unmittelbaren Gefühlsunschärfen angemessene Musik unterlegen, ohne jetzt schon entscheiden zu müssen, ob nur wir selbst oder alle vor Ort befindlichen Personen sie hören können?

Was passiert, wenn wir die Plätze tauschen? Die Erwerbsbiographien? Die Vorlieben? Wenn eine wahre Reform der Denkungsart uns als einzig nachhaltige Möglichkeit einer Veränderung der Verhältnisse immer zwingender erscheint?

Was passiert, wenn wir dem Wind in den Bäumen, den tröstenden Worten am Abend lauschen? Wenn wir im gleichen Rhythmus zu atmen beginnen? Wenn hier und jetzt ein milder Rausch uns erfasst? Wenn wir die Autobahnen überqueren auf der Suche nach Geborgenheit?

Was passiert, wenn wir mit einem Male einverstanden sind mit uns selbst? Wenn es Erholung gibt und Linderung, vielleicht sogar Komplimente? Die Aussicht auf Heilung? Sie wissen, dass das möglich ist. Und wenn Sie es noch nicht wussten, dann wissen Sie es jetzt. Deswegen sind wir doch hier. Das Herz ist ja unendlich groß. Das hat mir einmal, ich schwöre es Ihnen, genau hier, wo ich jetzt stehe, ein wildfremder Mensch, so schien es mir zunächst, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, aber auch, daran konnte kein Zweifel bestehen, ohne irgendeinen Hintergedanken, erzählt. Ich weiß die Details nicht mehr, im Wesentlichen aber stimmte das alles. Ich lauschte den Ausführungen wie gebannt. Ich stand genau hier. Ich schaute mich um. Ich schaute diesen Menschen an, ich schaute hin und her, ich schaute nach. Sie wissen schon. Und es war alles da. Es war ja wirklich alles da, für etwas Vergleichbares mit dem, was man unter anderen Umständen den öffentlichen Gebrauch der Vernunft hätte nennen können; für eine Pflege der Begegnungen; und die in einer einzigen, sanftmütigen Bewegung sich vollziehende Aufhebung aller uns trennenden Einflüsse und Ängste.

Es ist an der Zeit, zur Ruhe zu kommen, sagte dieser mir wildfremde Mensch, mein Gegenüber, zum Abschied, zeigte mir die Freiheit und die gängigen Heilverfahren – Verfahren, in denen auch wir uns gerade befinden, vergessen Sie das bitte nicht, wir sind ja mittendrin und längst dabei an diesem, Sie wissen schon, an diesem Allen zugänglichen und zustehenden Ort, der, das erfahren Sie ja gerade selbst, wie dafür gemacht ist, sich zu erholen und zu genesen.

Es ist an der Zeit zur Ruhe zu kommen, sage auch ich jetzt. Legen Sie doch, wenn Sie möchten, die Hand auf ihre Brust. Atmen Sie ruhig. Ich zähle gleich bis drei: Dann wird die Freiheit in alle Schächte und Stollen, alle Lagen und Lagerungen gelangen, in denen sich die Gedanken regen, seit ich mit Ihnen rede. Dann wird sich eine Wärme in Ihrem Gemüt ausbreiten und ein Einvernehmen. Dann werden Sie den nötigen Mut aufgebracht haben. Sie wissen schon, wofür. Sind Sie bereit? Ja? 1 2 3.

28.06. 18:00